Warum nicht auch einfach mal begeistern?

Sebastian
November 8, 2021

Nun bin ich noch nicht seit Ur-Zeiten in der Versicherungsbranche auf IT-Projekten unterwegs. Dennoch würde ich behaupten, dass ich im Laufe der letzten Jahre einen relativ guten Überblick darüber gewinnen konnte, wie gerade Leuchtturm-Projekte bei den Großen der Branche durchgeführt werden und worauf dort bei der Umsetzung der Fokus liegt.

Ein Punkt der auffällt ist, dass viele Versicherer bei solchen Umsetzungsvorhaben nahezu ausschließlich damit beschäftigt sind, die "Basics" zum Laufen zu bringen. Mit "Basic" ist zum Beispiel gemeint, dass ein Angebotsprozess vom Frontend bis zum Backend (Policy-Management, OMS, etc.) fachlich/technisch einwandfrei funktioniert. Das ist zum einen nicht verwunderlich, da manche Geschäftsprozesse mit ihrer Vielzahl an Variationen und den dabei involvierten Applikationen nun einmal relativ komplex sind.

Zum anderen ist es aber in meinen Augen schon ein wenig enttäuschend, dass anscheinend so gar kein Drive dahingehend zu sehen ist, für die Anwender der Software auch mal etwas Neues, für den kurzen Moment Begeisterndes hinzustellen.

Begeisterung von Kunden bekommt man nicht geschenkt!

In dem Schaubild habe ich diesen Umstand einmal versucht darzustellen. Und zwar basierend auf dem bekannten Kano-Modell. Das Modell in aller Kürze zusammengefasst:

  • Basisfaktoren: sind unterbewusste Anforderungen, die der Anwender nicht einmal erwähnen würde, würde man ihn um die Anforderungen an das neue System fragen. Weil sie einfach selbstverständlich sind
  • Leistungsfaktoren: werden explizit als Anforderung erwähnt
  • Begeisterungsfaktoren: sind Dinge, auf die der Anwender - z. B. mangels Bewusstsein über die Möglichkeiten - überhaupt nicht kommen würde, welche aber zu Begeisterung führen, wenn er diese erleben darf

Im Schaubild geht es um keinen bestimmten fachlichen Kontext. Nun könnte man sicherlich auch separate Schaubilder jeweils aus der Sicht einer Anwendergruppe (Endkunde, Sachbearbeiter, Vertriebspartner) machen. Der Einfachheit halber - und weil es ausreicht, um meinen Standpunkt herüberzubringen - habe ich alles in einem Schaubild vereint.

Begeisterungsfaktoren

Endkunde - "Tracking der Schadenbearbeitung"

Wir sind aus anderen Bereich mittlerweile gewöhnt, dass wir z. B. eine Email-Notification erhalten, sobald ein Paket losgeschickt wurde. Und nicht nur das: auch wenn der Kurierdienst nur noch x-Stopps vom Zuhause entfernt ist, wird man benachrichtigt und man kann dies wunderbar auf einer Map sehen.

Wie sieht es bei der Schadenbearbeitung in der Versicherungsbranche aus? Nun, weit weg von dem, was a) heute möglich wäre und b) was bei den meisten Kunden wohl Begeisterung auslösen würde, wäre es denn doch anders.

Warum nicht so:

  • für Prozess X (meinetwegen KFZ-Haftpflichtschaden) wird ein Zielprozess definiert, wie er abzulaufen hat (ggf. mit diversen Variationen)
  • für die verschiedenen Stationen im Prozess werden Status festgelegt, welche im Backend einfach vorgehalten werden können
  • reicht der Kunden nun einen solchen Schaden ein, dann bekommt er a) zu Beginn direkt mitgeteilt, wie der reguläre Ablauf eines solchen Schaden beim VU abläuft b) welche Zeit dieser im Durchschnitt (basierend auf Daten aus der Vergangenheit) in Anspruch nimmt c) wie der aktuelle Bearbeitungsrückstand in den Fachbereichen zum Zeitpunkt des Einreichens aussieht und d) eine Notification, wann immer der Vorgang den Status ändert

Ich behaupte, dass ist mit den heutigen Systemen bei vielen Versicherern mit ihren digitalen Postkörben und Co. ohne ausufernde Aufwände möglich umzusetzen. Gesehen habe ich sowas allerdings noch nicht. Weder bei mir selbst als Endkunden, noch im Backlog eines Versicherers.

Vermittler - "Sofortige Anzeige erzielter Provisionen"

Einige Versicherer bauen dedizierte Frontends für Ihre Vertriebspartner. Dabei ist der Unterschied in den Antragsstrecken aus meinen bisherigen Erfahrungen heraus eher marginal. Wenn, dann werden die TAA-Strecken für Vertriebler eher so gebaut, dass mehr Attribute auf eine Maske gepackt werden, wohingegen beim Endkunden die Designer eher darauf bedacht sind, ein bis zwei Attribute dort zu platzieren.

Wenn ich Vertriebler wäre, dann fände ich folgende Feature auf jeden Fall super:

  • ich reiche einen Antrag für einen Kunden ein
  • nach Abschluss der Transaktion wird mir direkt - ohne das ich auf eine andere Maske springen muss oder sogar in ein anderes System - angezeigt, wie viel Provision (ggf. sogar Bestandsprovision in x Jahren) ich mit dem Geschäft verdient habe
  • oder noch weiter gedacht: es wird mir ebenfalls eine Art Statusbar oder Pie-Chart angezeigt, wie weit ich nach diesem Abschluss noch von meinen Jahreszielen entfernt bin (fällt das bereits unter "Gamification"? )

Ich bin mir sicher, dass ein oder andere an nützlichen Informationen könnte man aus Systemen wie SAP FS-ICM herausziehen und dann so anreichern, dass sie dem Vertriebler einen Mehrwehrt bieten.

Sachbearbeiter - "One-Click Anzeige relevanter Infos zur Krankheit"

Wer schon mal in einer Leistungsabteilung eines Krankenversicherers gearbeitet hat oder in diesem Bereich Softwaresysteme konzipiert und umgesetzt hat, der weiß, dass es eine Vielzahl an ICD-Schlüsselnummern gibt, mit denen Krankheiten auf Rechnungen spezifiziert werden.

Das hier ist sicherlich das komplexeste Feature, welches im Schaubild vorkommt - deswegen ja auch weit rechts oben anzutreffen - jedoch für den Sachbearbeiter zur Einschätzung der Situation besonders hilfreich:

  • der ICD-Code wird automatisch in das System eingelesen
  • nun sollte der Sachbearbeiter einfach nur auf den Code auf der Regulierungs-Maske klicken oder hovern müssen und schon werden ihm zentrale Daten zur Krankheit angezeigt (Beschreibung der Krankheit, durchschnittliche Behandlungsdauer, vorgesehene Therapien, etc.)
  • diese Daten werden aus einem (externen) Quellsystem ausgelesen
  • um (zumindest vorläufig) einschätzen zu können, ob man sich hier vom Umfang her noch in einem medizinisch notwendigen Rahmen befindet, sollten die Kosten aller Rechnungen dieses Kunden mit dieser Krankheit mit den durchschnittlichen Behandlungskosten aller Kunden mit dieser Krankheit im Zeitraum x verglichen werden

Die Maschine würde hier also bei einem Teil der Leistungsprüfung überaus hilfreich unterstützen (ohne diese allein darauf basierend fallabschließend durchführen zu können) und würde lange interne Prozesse verkürzen (Vorlage des Falls zur Prüfung beim Mediziner in der Abteilung, etc.), was den Kunden zugute kommt.

Vielleicht wären es die Aufwände und Zeit wert, in die Entwicklung und Umsetzung solcher Feature aus der Kategorie "Begeisterungsfaktoren" zu investieren, um bei den Kunden immer wieder das Gefühl hervorzuholen, dass die Fokussierung auf die Digitalisierung auch tatsächlich mit einem gefühlten und erlebbaren Fortschritt verbunden ist.